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Klaus Kirchner spricht mit Junko Baba
Klaus: Du hast ein Sensenblatt beschrieben.
Junko: Das war für mich eine neue Herausforderung. Normalerweise schreibe ich auf Papier, Leinwand, Seide, Stoff. Aber die Form des Werkzeugs Sense war etwas Neues. Ich hatte vorher noch keine Gelegenheit, so einen Gegenstand zu beschreiben. Auch Neugier war dabei: Wie wird das gehen?
Klaus: Was steht auf diesem Blatt?
Junko: Der Vorschlag eines Textes aus Sei Shonagons 清 少納言 (966 – 1025) Kopfkissenbuch (枕草子Makura no Soshi) kam von Dir und ich fand ihn sehr passend: Es geht um die Sense, es ist japanische Literatur, die Verbindung von Natur und Kultur. Wie die Hofdame das beschrieben hat, finde ich sehr interessant.
Klaus: Was wird in dem Text beschrieben?
Junko: Die Hofdame Sei Shonagon macht eine Ausfahrt (ca. um das Jahr 1000) und sieht dabei Menschen im Reisfeld arbeiten. Sie mähen mit der Sense. So etwas hatte sie als Hofdame vorher noch nie gesehen. Obwohl sie Frau und Hofdame ist, möchte sie das auch gerne einmal probieren: das schaut gut aus und scheint Spass zu machen.
Klaus: Wie hast Du den Weg zur Kalligrafie, zum Schreiben, zu Sho-Do (den Weg des Schreibens siehe weiter unten) gefunden?

Junko: Meine Mutter war Kalligrafin und in ihrer Familie waren alle bis zum Urgrossvater Kalligrafinnen und Kalligrafen. Sie hatten eine Kalligrafie-Schule gegründet – wie ich hier in Wien. Es war für meine Familie und mich selbstverständlich, dass auch ich Kalligrafie mache. Als Kind standen mir immer Pinsel und Papier zur Verfügung. Das habe ich ausprobiert. Für mich war es ganz normal – so wie jemand heute etwas mit dem Bleistift oder Kuli aufschreibt – den Pinsel zu nehmen und anzufangen zu schreiben. Als ich vier Jahre alt war, habe ich mich auch für Musik interessiert und Klavier spielen gelernt. Mit sechs Jahren habe ich angefangen Ölbilder zu malen. So habe ich die drei Ausdrucksformen Kalligrafie, Malerei und Musik immer für mich genutzt. Durch die Kalligrafie habe ich auch gelernt, dass die Werkzeuge wichtig sind. Wie man mit ihnen umgeht. Es wird nicht nur geschrieben und dann der Pinsel liegen gelassen. Den Pinsel reinigen, die Tusche reiben, ich habe nicht nur Schreiben gelernt sondern das, was wichtig ist. Die Vorbereitung ist wichtig, beim Schreiben die Konzentration und Disziplin und danach muss man auch reinigen, die Werkzeuge pflegen.
Klaus: Was macht für Dich persönlich die Faszination der Kalligrafie aus?
Junko: Ich mag Schreiben sehr gerne. Ich bin immer neugierig. Beim Sensenblatt hat mich das Material interessiert. Wenn ich ein Schriftzeichen sehe, zum Beispiel „Wind“, dann denke ich: es gibt verschiedenen Wind: „eine sanfte angenehme Brise im Sommer“ und auch einen „Taifun“. Das Schriftzeichen für „Wind“ ist schon festgelegt, ich kann die Striche nicht ändern, ich kann nicht einfach einen weglassen, wenn ich das möchte. Aber ich kann meine Interpretation davon machen. Natürlich muss ich zuerst die Technik lernen, verschiedene Schriftstile, aber danach kann ich selbst interpretieren und ich kann meinen eigenen Ausdruck finden, meinen eigenen Bezug zu diesem „Wind“ beschreiben. Das fasziniert mich. In der Musik ist es ähnlich: Mozart hat ein Stück komponiert, Text und Musik sind bereits fixiert. Zur Musik steht fest: hier muss es piano sein und dort crescendo, sogar die Geschwindigkeit – eigentlich ist alles schon festgelegt. Trotzdem spielt jeder Musiker und jede Musikerin seine und ihre eigene Interpretation. Das ist das Interessante. Wir sind keine Maschinen. Eine Maschine kann nur immer wieder das Gleiche herstellen. In dem, was ich tue, spielt meine Gesundheit, meine Emotion, wie es mir gerade geht – eine große Rolle. Das interessiert mich und deswegen mache ich weiter. Es gibt kein Ende. Es gibt immer wieder eine neue Idee.
Zur Zeit mache ich auf Instagram jeden Tag eine neue Kalligrafie. Manchmal denke ich schon beim Aufstehen, oder am Nachmittag: Was schreibe ich heute? Es ist schon fast so etwas wie ein Tagebuch geworden. Was passiert gerade bei mir? Und dann schreibe ich etwas inhaltlich Passendes. Oder machmal fällt mir ein guter Spruch ein, den ich heute gerne schreiben möchte. Wie schreibe ich? Mit welchem Pinsel? In welcher Grösse? Auf welches Papier? In welchem Schriftstil? Diese Fragen stelle ich mir jeden Tag und das finde ich interessant. Dadurch lerne ich natürlich auch viel.
Klaus: Du machst auch Performances, bei denen Du mit einem sehr großen Pinsel schreibst. Das erinnert mich an den Tanz mit der Sense: Um das Werkzeug gut einzusetzen, verwendest Du Deinen ganzen Körper. Tanzt Du?

Junko: Für mich ist das kein Tanz. Die Bewegung entsteht daraus, WIE und WAS ich schreibe. Ich mache keine Choreografie. In diesem Moment muss ich wirklich hundertprozentig da sein. Vor Publikum kann ich nicht sagen „Entschuldigung, das ist nicht so schön geworden, ich schreibe das noch einmal.“ Wie Musiker und Musikerinnen auf der Bühne: sie üben und üben jeden Tag, aber das Konzert gibt es nur ein Mal und das muss hundertprozentig sein. So ist auch meine Performance. In einem so großen Format kann ich auch nicht üben. Das macht es noch schwieriger: Wie schnell ich schreibe, wo ich anfange, das kann ich nur im Moment des Schreibens entscheiden. Ich konzentriere mich und ziehe es bis zum Ende durch. Bei der Bewegung, die ich dabei mache, kommen meine Gedanken, mein Pinsel und mein Körper zusammen.
Klaus: Ich mache Sensenkurse, Du machst Kalligrafiekurse? Was lernt man da?
Junko: Im Kalligrafiekurs kommt es nicht nur darauf an „Schön Schreiben“ zu lernen. Die Werkzeuge sind wichtig. Ich erkläre, was man für Sho-Do (Weg des Schreibens siehe weiter unten) braucht: Reibstein, Stangentusche, Pinsel, handgeschöpftes Papier. Ich erkläre die Unterschiede in der Saugfähigkeit: jedes Papier saugt anders. Und die Unterschiede der Pinsel. Die gibt es nicht nur in unterschiedlichen Größen, sondern auch mit Haaren unterschiedlicher Tiere, wie Pferd, Schaf, Dachs, Marder, Hirsch und so weiter? Es gibt verschiedene Schriftstile, unterschiedliche Schriftgrößen. Woher kommt die Tusche? Das alles erkläre ich und auch, dass wir dem gesamten Werkzeug gegenüber einen großen Respekt haben sollen. Das möchte ich vermitteln. Nicht nur Schriftzeichen: heute „Harmonie“, morgen „Herz“. Dazu versuche ich in meinen Kursen, auch andere japanische Kulturwege (Do‘s) wie Ikebana, Oregami, Zen oder Bonsai zu berühren. Sie haben vieles gemeinsam.
Klaus: Der Umgang mit dem Werkzeug Sense ist dabei auszusterben. Wie ist das mit der Kalligrafie?
Junko: Nicht nur in Japan, auch in Europa stirbt das Schreiben aus, seitdem es Computer gibt und Tastaturen. Alle schreiben mit dem Handy – nichts händisch. Das händische Schreiben wird nicht mehr so wichtig genommen. Vor zwanzig oder dreißig Jahren haben alle angefangen, mit dem Computer zu schreiben. So gab es in Japan die Frage „Wozu gibt es noch Kalligrafie?“ Ab der dritten Klasse lernten alle Kinder in der Volksschule Kalligrafie mit Pinsel und Tusche. Sollten sie in dieser Unterrichtsstunde nicht besser Mathematik oder Informatik lernen? Aber die Kalligrafiestunde ist nicht verschwunden. Durch sie lernen die Kinder nicht nur schön Schreiben sondern auch Disziplin, Konzentration, und 45 Minuten lang ruhig zu sitzen. Ich finde es wichtig, dass es das noch gibt. Interessanterweise haben auch jüngere Menschen angefangen, Kalligrafie-Performances zu machen. Nicht nur oberflächlich, sondern echtes Sho-Do mit Technik. Dadurch haben junge Menschen sich ihre eigene Kultur durch die Kalligrafie wieder angeeignet. In Japan wenden sich viele junge Leute wieder der Kalligrafie zu, und auch anderen alten Handwerken. Sie übernehmen Familien-Handwerke von Vater, Großvater, Mutter, Großmutter: Pinselmachen, Papierschöpfen, Schmieden, Stäbchenmachen, … Das finde ich wunderbar. Sie nutzen Tradition mit frischer junger Kraft und neuen Ideen.
Klaus: Du machst Kurse in Wien in Deinem Atelier, wo wir gerade sitzen. Hat sich das Interesse an Kalligrafie in Wien verändert?
Junko: Es ist konstant geblieben, seitdem ich hier bin. Natürlich waren vor dreißig Jahren, als ich nach Österreich gekommen bin, japanische Kultur und selbst japanisches Essen unbekannt. Jetzt kennt jede und jeder Sushi und hat das wenigstens ein Mal gegessen. Vor dreißig Jahren hat das niemand gekannt. Wenn ich von japanischer Kalligrafie gesprochen habe, gab es die Reaktion: Was ist daran japanisch oder chinesisch? Asien war EIN Asien. Durch Anime-Filme und Manga-Comics sind junge Menschen auch außerhalb Japans in Kontakt mit japanischer Kultur gekommen. Manche möchten mehr über Japan erfahren. Ich unterrichte auch an der Universität in Wien. Dort belegen Studentinnen und Studenten der Japanologie, Sinologie und Koreanologie meine Kalligrafiekurse. In meine anderen Kurse kommen ganz unterschiedliche Menschen: Männer und Frauen, ein ganz kleines Kind, ältere Personen; viele Menschen, die Kampfkünste machen: Karate, Aikido, Jiaido, Judo, Juijitso; auch Grafiker, Maler, andere Künstlerinnen und Künstler, die die Werkzeuge ausprobieren möchten für ihre Malerei oder ihr Zeichnen.
Klaus: Was möchtest Du noch sagen?
Junko: Manche Menschen kommen zu mir und fragen „Wie lange soll ich lernen?“ „Wie lange muss ich lernen, um schreiben zu können?“ Diese Gedanken sollten sie vergessen. „Jetzt bin ich fertig“, das gibt es nicht. Deswegen heißt es „Do“ – der Weg (Sho-Do, Karate-Do, Aiki-Do, Cha-Do, Sa-Do). Im Deutschen sagt man auch: „Der Weg ist das Ziel.“ Der Weg ist vor mir, ich habe dort ein Ziel, das ich erreichen möchte. Aber wenn ich dort bin, kommt die nächste Herausforderung. So ist der Weg endlos. Vielleicht ist diese Sichtweise in Europa und Japan ein wenig unterschiedlich. In einem Interview wurde ich einmal gefragt: „Was denken Sie über Perfektion?“ Westliche Perfektion und was ich für japanische Perfektion halte, ist etwas anderes. Hier in Europa gilt mehr „Ja oder Nein“ und „Jetzt bin ich fertig.“ Das ist scheinbar so wichtig. Beim Schreiben schreiben viele zu schnell. Ich sage „Schreiben Sie langsamer, mit Gefühl, noch langsamer“. „Noch langsamer, das geht nicht!“ kommt da manchmal. Durch Sho-Do kann man das lernen.
Klaus: Da sind wir wieder beim Sensenmähen, denn da bin ich auch nie fertig. Danke schön.